I Aurora

Atlantis 1

Posted on Wednesday, May 20th, 2009 by tritus

..

Liebe Kinder,
wenn ihr heute in den Himmel schaut, und die Sterne beobachtet, so sieht das, was ihr mit bloßem Auge erkennen könnt, meist sehr langweilig aus. Was ihr sehen könnt, verleitet Euch sicher selten dazu noch länger als nur zwei Minuten Euch mit den Phänomenen jenseits des festen Bodens unter euren Füßen zu befassen und der um Euch herum sinnlich erfahrbaren Welt. Besonders uninteressant erscheint sicher der Sternenhimmel, wenn ihr in einer schmutzigen, lärmenden Stadt lebt. Ich lebe auch in einer Stadt. Einmal jedoch war ich auch auf dem Land, weit ab von jeder Zivilisation in einem tiefen Wald. Das geschah, als ich selbst noch ein Kind war. Und wie ich so durch die finsteren Tannen streifte, und das rote Gestrüpp mir die Arme und manchmal auch das Gesicht zerkratzte, wie ich an den harzigen Stämmen kleben blieb und mich langsam vorwärtskämpfte, denn ich hatte mich schon seit Stunden verirrt, da betrat ich keuchend eine Lichtung und mein Blick fing auf, was ich seither niemehr vergessen sollte. Es war das klare, helle Sternenzelt einer mondlosen Sommernacht. Ich hatte nie geglaubt, dass es so viele sind, nichteinmal geglaubt habe ich den Erzählungen meines Großvaters, der immer davon schwärmte, dass es ihm nie gelungen sei jemals mehr als nur drei von ihnen zu zählen, weil es so unglaublich viele wären. Bis zu diesem einen Erlebnis schaute ich wenn nur gelangweilt zum Himmel und erklärte auch meinen Großvater für verrückt, denn sie waren doch nur winzige Punkte und viel weniger als ich in meinem kindlichen Alter schon zu zählen vermochte und viel weniger als ich anfangs zu hoffen wagte.

Jetzt bin ich Großvater, und meine Kinder und Enkelkinder lachen mich noch genauso aus, wie ich es einst tat, bis zu jenem Tag, an dem ich erblickte und begreifen durfte, was mein Großvater mir damals eigentlich sagte. Es war einfach nicht möglich diese Sterne zu zählen, das ist mir mit einem Mal klar geworden, ohne dass ich darüber nachdenken musste.

Und so tief und so weit, wie das Universum plötzlich erschien, so wollte ich nicht begreifen, dass es unendlich sein sollte. Auch mein Großvater konnte damals über die Behauptungen meiner Lehrer und die Einfalt der Eltern nur lachen. Mein Junge sagte er fast vorwurfsvoll:
“Nichts, das unendlich ist, ist es wert auch zu sein.”
Auch die Bedeutung dieser Worte habe ich erst lange Zeit später begriffen, als mein Großvater bereits tot war und unter der Erde verrottete.

Aber eines stirbt nie, solange ich diesen einen Tag nicht vergesse, sobald ich zum Himmel schaue und nur die paar Sterne sehe, hier in der Stadt, die jeder Blinde erkennt in der Nacht. Sie heißen Capella, Arcturus und ..ach mir fällt es bestimmt später noch ein, es ist ihnen auch egal, wie die Menschen sie heißen.
Nie vergesse ich dann diesen Augenblich, in dem ich aus einem garstigen Dickicht trat und überwältigt wurde durch die Fülle des Lebens und zu sehen das Leben jenseits unserer kleinen Welt.
Die Lehrer behaupteten immer, wir seien im Universum allein, sie mussten es in einem sehr alten Buch nachgelesen haben, und sie wollten jeden, der etwas anderes glaubte für verrückt und unwert erklären.
Nie vergesse ich auch dann noch, wie ich mich einst erstaunte an meinen Großvater zu denken, der behauptet hatte, er könne diese ganze Pracht niemals nicht zählen.

Ach aber auch die größte vielfalt wird irgendwann langweilig, wenn sich nicht bald etwas dreht und bewegt, und so starrte ich lange hinauf in die Nacht und wartete auf das Wunder, wartete die ganze Nacht und ich erlebte einen fliederfarbenen Sonnenaufgang, der mir den Himmel verschloss und mich zurückholte hier auf die Erde. Ich erfreute mich noch an der Sonne, die ihre Geister aus den Nebeln zurückholte und trank frisches Wasser. Dann kroch ich durch die schatten der Wälder nach Hause zurück. Sonst geschah nichts.

Zu Hause bekam ich dann aber erstmal eine richtige tracht Prügel. Damals war das bei uns noch so üblich. Ich möchte nicht behaupten ich hätte schlechte Eltern, aber die haben von ihren Eltern auch nur Prügel gekriegt, also kannten sie es nicht anders und konnten nichteinmal etwas schädliches darin sehen, mich nach einer siebenundzwanzigstündigen Abwesenheit einmal richtig durchzuwalken – wie sie es nannten. Sie drückten damit sicherlich ihre Liebe aus, nur fühlte ich mich wirklich nicht sehr geliebt in diesem Haus und machte so schnell wie möglich wieder, dass ich dort weg kam, wo es nur Keile und Vorschriften gab.
Das Ergebnis ihrer Fürsorge war eigentlich nur, dass ich bald überhauptnichtmehr nach Hause kam, denn je später ich fröhlich hereintanzte, um so mehr setzte es Schläge, und meine Eltern waren eifrig dabei mir den Hintern zu besohlen, mich auszuklopfen, mich lang zumachen oder Faunzen zu verteilen, eifriger als die je waren mir Essen zu kochen oder meine Kleider zu waschen. Dabei wollten sie mir aber durchaus meine Freude nicht vertreiben. Ein Junge müsse selbstständig sein, hatten sie immer gesagt, und so war ich ohnehin auf mich allein gestellt. Also blieb ich im Wald.

Später erzählten sie mir, und sie waren sichtlich stolz darauf, dass ich als Kind immer weggerannt sei, und sie mussten Tagelang nach mir suchen. Danach wurde ich immer durchgewalkt, aber davon erzählten sie nichts. Heute ist es auch verboten seine oder überhaupt Kinder zu schlagen.

Ich habe mich manchmal mit dem Kopf gegen eine Wand fallen lassen, wenn mich die Wucht einer Fawntz durch den Raum schleuderte, und wollte sehen, ob es ihnen vielleicht Leid täte, aber dann bekam ich noch mehr. Wenn ich schrie oder weinte, war ich ein Simulant und bekam noch mehr. Wenn ich zurückgetreten hatte, sollte mir eine Hand aus dem Grab wachsen, und ich bekam noch mehr.

Ich erinnere mich an eine kalte Winternacht, der Schnee rieselte leicht und frei durch den Wind, und wir hatten bestimmt minus zwanzig Grad. Ich saß auf unserem Dach und war nackt. Ich dachte, ich würde vielleicht erfrieren, aber nach einigen Stunden bemerkte ich, dass ich mich langweilte, denn ich zählte die Sterne, und so stieg ich wieder zum Fenster hinein, zog mir etwas an und legte mich ins Bett, ich würde heute wohl nicht an einer Erkältung sterben, dachte ich, und so war es auch.
Ich hab es später nochmal am Tage versucht. Es war fantastisch, wie die kleinen weißen Pelzchen über mir hertanzten, und ich versank in vielerlei Träume unter einer Decke aus Schnee. Irgendwann dann wurde ich aber auch dessen ünerdrüssig, ich starrte in den weißen Himmel und zählte die Schneeflocken. Am Ende baute ich mir eine wohnliche Hütte im Wald und lebte darin, bis mich irgendwann jemand suchte. Das waren immer die schönsten Tage, und sie gingen im Fluge vorbei.
Ich habe fünfmal zuvor schon eine Hütte an fünf verschiedenen Orten gebaut, und jedesmal fand ich keinen anderen Ort geeigneter und versteckter gelegen. Diese Hütte aber lag an einem singenden Bach, und ich habe über den Frühling hinaus dort bis tief in den Mai gelebt. Die Wände meiner eigenen Bude waren aus Ästen, und das Dach war bedeckt mit zähem Laub. Ich bin irgendwann immer von selbst zurückgegangen, weil ich nicht wollte, dass sie mich finden, dieser Ort war mein heiligtum, er war zu schön für ihre hässlichen Fratzen, die sie immer zogen, wenn sie mit weit erhobenen Armen auf mich zurannten. Nein, sie wollten mich nicht an ihr Herz drücken. Das habe ich beim erstenmal noch geglaubt und lief ihnen freudestrahlend entgegen. Plötzlich hörte ich ein schrilles Piepen in meinem Ohr, ich sah ein paar Sterne aufblitzen und dann Pfiff es und mir wurde schwarz vor Augen, was mein Glück gewesen sei, sagten sie später und versetzten mir zwei, die ich offensichtlich im Wald versäumt hatte.

Ich glaube, sie hatten Recht, es war mein Glück, dass ich bewustlos geworden bin.