Trügerische Hoffnung

Johanna1

Posted on Thursday, June 26th, 2003 by tritus

Seit Stunden irrt Johanna umher, doch sie hat längst auch jedes Gefühl für ihre Umgebung verloren und für die Zeit. Sie glaubte zu schweben, jetzt fühlt sie sich schwer wie Blei. Die Dunkelheit raubte ihr jeden Sinn für eine erfahrbare Wirklichkeit. Die Augen flimmern ihr durch ihr Gehirn, es ist nicht schwarz um sie herum, es irritiert sie mehr als nur die Blindheit einer sternlosen Nacht, es ist ein Blitzlicht, das Stroposkop, das weiße Rauschen, die absolute Leere, ein Nichts, ein vollkommenes Fehlen von Licht und helle Flecken auf der Netzhaut.
Als ihr endlich wieder schwarz vor Augen wird, fühlt sie eine Ruhe in sich aufsteigen, die alles übertrifft, was sie bisher erfahren durfte. Es gab ihr Hoffnung, dieses Licht, das von irgendwoher kam, so schwach, dass sie es nicht sehen konnte, sie konnte noch immer nichts irgendwo sehen, aber es gab etwas zu sehen irgendwo, das wusste sie, irgendwo musste ein Licht sein, das ihre Augen wahrnehmen konnten, und es würde irgendwann heller werden, so dass sie es wirklich sah. Aber das Flimmern hatte aufgehört, vielleicht konnte sie einen Ausgang finden. Von der Finsternis in die Dunkelheit und zurück an den Tag, oder in eine lauwarme Nacht, das war ihr egal, sie wusste noch immer nicht, wie lange sie schon hier unten war, sie wollte wieder einen Himmel fühlen, das rauschen des Windes hören und den Dreck der stetig befahrenen Straßen riechen, die irgendwo, irgendwo da nach Dortmund oder Essen führten.
Manchmal spürte sie ein leichtes Beben, wie von einer Eisenbahn, das gab ihr hoffnung, sie ahnte die Zivilisation, sie fühlte sich nichtmehr allein. Eine zeit lang ist sie dem Beben gefolgt, aber es führte sie nur tiefer hinein, und sie wurde eins mit dem schwarzen Gestein.
Es war die schwarze Stadt, es war diese Faszination Bochum, eine Weltstadt am Rande einer sinnlosen Wirklichkeit. Ein Stadt, die sie nie wieder losließ, das schien sie zu spüren, eine Stadt ohne erkennbare Grenzen, doch lange hatte sie diesem Gefühl nicht getraut. Es war wie ein Zufall, der sie hier her brachte, als es geschah, dass sie die Zulassung ihren Händen hielt und zu ihren Eltern rannte und rief gleichermaßen voller Freude, voller Wut auf sich selbst und Entsetzen, Bochum, es ist Bochum, sie konnte sich diese Gefühle nicht erklären, das Herz von Europa, es ist das das Ruhrgebiet, die Ruhr-Metropole, ich gehe ins Ruhrgebiet.
Ja, es war eine Seltsame Welt, die sie hier fand. Seltsam, erschreckend, abstoßend und schön zugleich. Diese Betonwüste, sie war etwas fremdartiges, wie ein Raumschiff, das sich in die letzte noch blühende Landschaft dieser Industriehölle gefressen hatte und nun nichtmehr verschwand. Nein es war nicht nur die Ruhr-Universität, wenn man sie von unten her sah, von den experimentellen Bauernhöfen, war sie fast schön, so fremd, so erschütternd, die Betonwüste aber war eine Landschaft nach Norden und Westen, die nirgends ein Ende fand, eine nicht endene Landschaft aus Lärm, Asphalt und grauem Gestein.
Im Osten geht die Sonne auf.
Plakate nennen sie die Kulturhauptstadt, die Metropole im Herzen Europas, Bochum lag irgendwo am Rande, sie machte sich nichts vor. Es würde ein Albtraum werden, in ihrem Empfinden war an diesem Ort wenig Kulturgefühl übrig geblieben, dafür gab es überall diese grauen Gesichter, Gesichter, die so hart schienen, wie der Beton, mit dem sie verwachsen waren und in Symbiose zu leben schienen. Diese Menschen der schwarzen Stadt, sie wollten um jeden Preis glücklich sein.
Sie war Wälder gewöhnt, in denen sie lernte sich tagelang zu verlaufen, da wo sie aufgewachsen war, gab es niedrige Berge, weit ausgedehnte Lichtungen, kaum Industrie aber auch Bergbau. Ja sie fühlte sich durch den Bergbau ein bisschen zuhause, dort wurde Silber abgebaut, hier ist es das schwarze Gold. Alles ist schwarz in dieser Stadt. Man konnte sich in den Bergen verlaufen, ohne dass man sich jemals verloren vorkam, hier fühlte sie sich sofort verloren, Johanna, als sie die ersten schweigenden Schlote von der Ferne her sah. Sie konnte sehr sehr weit sehen, orientierte sich an Bächen und Felsen, an Orten, die ihre eigenen Seelen hatten.
Wie soll man das beschreiben, es gab diese Metamorphosen, die jeder ohne weiteres durchschreiten konnte, sie wusste, dass sie nun in einer anderen Welt war. Hier standen düstere Tannen, da waren es supfige Wiesen, dazwischen standen blutige Buchen, und im Winter versank sie bis zum Kinn tief im Schnee. Dann war alles gleich, dann gab es nirgendwo Grenzen, das Leben dieser Landschaft schien träumend zu schlafen, wie das Märchen in seinem diamantenen Kleid. Diamanten fand sie hier oft, viele kleine Diamanten, es waren ganze Monate, in denen sie grub, wenn der Boden weich und lebendig war, und sie fand unglaubliche Mengen, aber die Steine Waren nichts wert, sie lagen auch so überall, sie sah dieses Glitzern auf Schritt und tritt, große und kleine, es war nicht ein wirklich außergewöhnlicher Fund dabei. Es war oft schwerer einen Ziegel zu finden. Ziegel waren eine Seltenheit. Hier in der schwarzen Stadt braucht man nach roten Ziegeln nicht lange zu graben, die menschne Pflanzen darin ihre Blumen ein. sie würden ebenso kümmerlich wachsen.
Ja sie betrat mit einem schritt zum anderen oft eine andere Welt. In den Wäldern ihrer Kindheit gab es Elfen und kobolde, gab es große Auen und Seen, gab es Himmel von Smaragt, Himmel von Amethyst, Himmel aus Quarz und Himmel so blau, wie die Träume in einem seltenen Jadestein. Die Berge schimmerten grün wie die verbreitete Jade. Nachts, leuchteten sie wie die Augen einer sanften Gestalt – gutmütig und frei.
Hungrig und wild war auch die schwarze Stadt, wie ein kollabierter Stern, sie saugte alles in sich auf, was sie bekam, Menschen aller Kulturen, aller Arten aller Formen und Farben, und alle wurden sie schwarz wie der Stein und kreisten in diesem Feld der Endlichkeit wie sagenhafte Figuren aus einem unerklärlichen Roman.
Sie war schön diese schwarze Stadt, doch das bemerkte Johanna nicht selbst, man musste es ihr sagen und jedesmal, wenn ihr jemand sagte, wie schön diese Schwarze Stadt war, umso mehr begann sie ihr Leben zu lieben.