Pjotr Zarewitch

Rodina

Posted on Wednesday, November 6th, 2019 by TriTuS

In dem riesigen Land zu verschwinden gestaltete sich schwieriger, als es zuerst den Anschein hatte. Zunächst musste Pjotr eine andere Identität annehmen, und so hieß er jetzt allgemein Alexey, doch das machte die ganze Sache nicht leichter, weil jeder, der ihm begegnete, genau fragte, woher er stammte, wer sein Vater wäre, was er vor hätte, woher er gerade käme und wohin er gehen wollte, und was er dort suchte. Das waren Fragen der allgemeinen Höflichkeit, sie wurden beiläufig gestellt, und doch blieb es höchst verdächtig nicht ausführlich und wahrheitsgemäß auf alle Fragen zu antworten, ja es spottete der Gastfreundschaft, und nicht allzu selten wurde er unter Androhung von Stockschlägen aus Ortschaften vertrieben oder einem benachbarten Fürsten angezeigt, nachdem seine Aussagen wiedersprüchlich waren. Ja, auf all diese Fragen eine Antwort zu finden, die glaubhaft schien und nicht vollständig gelogen, wurde Alexey Petrowitch langsam leid, und er zog es vor eine Zeit lang alle größeren Siedlungen zu vermeiden und nicht länger als wenige Tage auf kleineren, abgelegenen Bauernhöfen zu bleiben. Er gab sich als heimreisender Handwerker aus, und so konnte er manchem Mütterchen helfen das Dach zu reparieren, Holz zu sägen, Steine zu schleppen und kaputte Möbel zu pflegen.

So reiste er inzwischen allein, begleitet von zwei seiner engsten Vertrauten, die ein paar Stunden Abstand halten mussten, sich nicht selten im Wald versteckten, sein Pferd versorgten, und mit denen er sich verabredete sie an geeigneten Plätzen zu treffen um zu beraten. Die Übrigen seiner ehemaligen Jagdgesellschaft sandte er aus die weitere Gegend zu erkunden, Perspektiven zu suchen und nach Verfolgern Ausschau zu halten aber auch die Vorgänge in der Hauptstadt nicht aus den Augen zu lassen, sehr vorsichtig Kontakte zu halten, Nachrichten weiterzugeben und zu erwarten, und so spann sich über mehrere Tagesreisen hinweg ein weitmaschiges Netz aus wachen Augen, Kontakten und Informationen. Diese kleine Hand voll Kundschafter erlebte viele Abenteuer und konnte oftmals dem Flüchtigen noch in letzter Not helfen nicht von seinen Verfolgern entdeckt zu werden, die mit dem ganzen zum Manöver ausgerückten Heer an Reitern und Soldaten Wälder, Wiesen und Felder durchstreiften und in allen vorstellbaren Ortschaften Spione ansiedelten, um den rechtmäßig zukünftigen Herrscher zu ergreifen und ihn, sollte es nötig sein, auch mit Gewalt auf den Thron zu setzen. Nur die verpflichteten Bauern durften wieder nach Hause und ihre gewohnte Arbeit fortsetzen.

Schweren Herzens beratschlagte Pjotr sich also mit seinen Freunden und sie kamen zu der Notwendigkeit das Land zu verlassen und in andere Gegenden zu ziehen, in denen der eigene Hofstaat weniger Einfluss hatte und die Menschen im Allgemeinen freier waren, denn hier war es schon einfachen Menschen verboten, auch einzelnen Holzfällern nicht erlaubt weiter als drei Tagesmärsche aus ihrem Geburtsort herauszukommen, es sei denn sie wurden in Begleitung einer dekorierten Aufsicht in kleinen Gruppen von einem Fürsten geschickt oder waren im Besitz einer ausführlichen amtlichen Vollmacht, um einen Teil des Weges alleine zu laufen. Kaufleute und ausländische Händler hatten einen besonderen Status, doch sie durften festgeschriebene Routen nicht verlassen und wurden mit schweren Bußen bestraft ja sogar enteignet und in wilde Landschaften gesiedelt, sollten sie Kontakt zur Landbevölkerung gepflegt haben oder ohne Erlaubnis auffällige Umwege machen.

Die Landfürsten allein durchreisten sehr häufig weite Gegenden, um nach dem Rechten zu sehen und besuchten sich von Zeit zu Zeit, doch diesen durfte Pjotr sich erstrecht nicht zeigen, und sie fuhren nicht nur die gewohnten Straßen. Er wusste nicht, wem von ihnen er vertrauen konnte, und im Grunde waren sie allesamt strenggläubig und fest davon überzeugt, dass ein Herrscher das Land regieren müsse, und es keine Möglichkeit gab dieses Schichsal zu verneinen es sei denn durch den Tod. Aber auch einen Nachfolger gab es nicht, denn Pjotr hatte noch nicht die Gelegenheit einen Nachfolger zu zeugen, und so war das gesamte Fürstentum in Aufruhr und ernster Besorgnis fest entschlossen diese unmöglich zu akzeptierende Lage auszuräumen.

Alles war in Aufruhr, und jeder fähige Mann beteiligte sich direkt oder indirekt an der Suche. In Dörfern, die seit jahrzehnten keine fremde Menschenseele mehr besucht hatte, trafen plötzlich hintereinander mehrere gehetzte Reiter oder Reisewagen ein, die nach Nahrung und frischen Tieren verlangten, nicht lange verschnauften und polternd wieder verschwanden. Die Verwirrung war groß, und es gab viel Aufregung, es war fast unmöglich die Umstände geheim zu halten, ja die Landbevölkerung nicht in Angst und Schrecken zu versetzen, welche schon heimlich zu nachbardörfern Kontakt suchte und einen bevorstehenden Krieg vermutete.

Die Mutter von Pjotr Zarewitch blieb inzwischen mit den Staatsgeschäften vertraut, und sie empfing täglich Fürsten und Abgesandte, die mit wildem Haupt und wirren Worten versuchten den Verbleib des jungen Pjotr zu bezeugen, doch niemand wusste, wo er war, und alle waren fest davon überzeugt, er würde nicht weit fliehen können, sich in einem kleinen Ort nahe der Hauptstadt aufhalten, vielleicht bei einem ausländischen Kaufmann verstecken, irgendwann zur Besinnung kommen und reumütig die Mutter um Vergebung bitten für all die Last und all die Leiden, die er ihr auferlegte. Und so begann die Herrscherin Mutter ihre Last und ihr Leid laut zu beweinen und zu beten mehrmals am Tag, und bald ertappte das Mutterherz, wie der Verstand ihr vorgaukelte, es sei doch besser ihr Sohn sei gestorben, und es kämen fähige Großfürsten an die Macht, die mit fester Hand führten und nicht vor ihren Aufgaben zurückschreckten, wie ihr armer, und aus ihrer Sicht durchaus geisteskranker, abtrünniger Sohn.

Doch schnell verscheuchte sie diese Gedanken und weinte bitterlich und fiel auf die Knie vor dem Altar und sie flehte zu dem Höchsten, er möge die segnende Hand über ihren Sohn ausbreiten, ihn führen und allezeit beschützen Tag und Nacht, dass er heimkehre eines Tages, wenn sein Herz dazu bereit wäre und den zitternden Fingern der im Alter schwachen Mutter, die gebeugt ist und von Kummer zerfressen, ja ihr endlich Trost bietet – ihr, der sanft in Liebe das Zepter in seine fürsorglichen Hände entgleitet.